Hagia Sophia

Gestern abend bin ich zu einem Besuch über den Bosporus auf die asiatische Stadtseite Istanbuls nach Kadiköy gefahren. Die Kuppel der Hagia Sophia ragte über dem Wasser und den grünen Bäumen ins milde Abendlicht. Die Sonne liess sie in kräftige Herbstfarben tauchen. Bei der nächtlichen Rückkehr mit dem Schiff wölbte sich die hell beleuchtete Kuppel in den schwarzen Himmel. Es war, als würde sie schweben und mein Auge blieb abermals lange an ihr haften. Nun sind wir schon bald eine Woche in Istanbul und wir haben die Hagia Sophia noch nicht besichtigt, nur immer wieder habe ich sie von aussen bestaunt. Und je länger ich sie anschaue, umso grösser wird in mir die Scheu, sie wieder zu betreten. In ihr hatte ich vor vielen Jahren eines meiner eindrücklichsten Architekturerlebnisse. Durch die Tür in den dunkeln Raum eintretend, riss sich mir damals nach dem Nartex der Raum nach oben auf. Das Gewölbe empfand ich als so wuchtig und leicht schwebend zugleich, dass die erwartete Enge eines Raumes aufgerissen wurde, und ich eine Erfahrung der Weitung und Befreiung machte, die bis heute in mir Spuren hinterlässt. Erhabenheit.
Ich werde diesen für mich wahrlich heiligen Raum heute wieder betreten. Es wird ganz anders sein als damals. Das Erlebnis von einst will ich loslassen. Der geistlichen Bedeutung dieser Kirche aber will ich Raum geben. Hagia Sophia, Raum der Heiligen Weisheit. Nicht die heiligen Hallen, von des Menschen Edelheit geweiht. Raum der Weisheit Gottes, für Juden ein Ärgernis und für Griechen Torheit – und für mich?

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4 Kommentare zu Hagia Sophia

  1. Pia Kutschera sagt:

    Lieber Christian,

    Deine Schilderung hat mich mit Andacht erfüllt und Freude, weil ich diesen
    Raum auch schon einmal intensiv empfunden habe. Für mich war die
    Nicht-Zerstörung der christlichen Symbolik, trotz der Umwandlung in
    eine Moschee, ein Zeichen für religionsübergreifende Liebe und Respekt.
    Sie haben sich geäußert in einer Zeit, die eher für islamische
    Zwangsmissionierung und Gewalt stand. Ich wünsche Dir und den anderen in der Hagia Sophia heute das Eintreten in den geistlichen, interreligiösen Dialog, der im Lassalle-Haus gepflegt wird, dem Ihr Eure Pilgerreise widmet, und den Frieden, der nur von Gott kommen kann.

    Herzlich, Pia

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Pia
      Die Hagia Sophia ist bis heute umkämpft und überlagert von Ansprüchen. Hoffentlich geht es in der Geschichte etwas friedlicher weiter.
      Mit einem lieben Gruss
      Christian

  2. Monique sagt:

    Lieber Christian, Esther, Franz und Hildegard
    Vor einigen Jahren hat mich ich die „Hagia Sophia“ in Istanbul auch fasziniert…
    Nun erfahre ich die „Weisheit Gottes“ im Raum des Menschen oder in der Hl. Schrift, manchmal ganz unerwartet: ein weises Wort, dass Weite eröffnet…
    Mit einem herzlichen Gruss
    Monique

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Monique
      Ja, die Weisheit Gottes baut ihr Haus an den verschiedensten Orten.
      Mit einem lieben Gruss,
      Christian