Vorsehung

Pilgertage wie heute werde ich nicht vermissen. Es ist hart, ungeschützt und verletzlich einem Stadtriesen wie Istanbul zu begegnen. Und doch gab es erstaunliche Kleinigkeiten, die wir nicht übersehen haben. Die nicht untergingen im Dauerlärm, dem Gestand und dem Dreck. Und nicht nur heute gab es sie. Immer wieder. Es handelt sich dabei vielleicht sogar um DIE Pilgererfahrung. DIE spirituelleste Pilgererfahrung möglicherweise.

Wir laufen eng hintereinander an den Rand der Strasse ohne Trottoir gedrängt. Bei uns würde es sich um den Pannenstreifen handeln. Auf der andern Seite läuft auch jemand. Die längste Zeit. In Sandalen. Irgendwann quert er zwischen vielen Autos hindurch und will auf unsere Seite wechseln. Wir halten an. Ein 43-jähriger Türke, ein gebildeter Mann, Czingi, der unglaublich gut Deutsch spricht. In der Schule gelernt!! Er stellt uns die üblichen Fragen, bedeutet, dass er, der Arbeitslose, Zeit habe mit uns zu kommen. Für uns sind das nicht ganz einfache Momente, weil wir unseren Trott haben, dem GPS folgen und keine Umwege gewillt zu machen sind und nie genau wissen, wie gut die Menschen unser Tun einschätzen können. Aber wir sprechen miteinander beim Weitergehen und es zeigt sich, der Czingi ganz gut verstanden hat, was wir wollen. Er bringt uns zu einer Teestube. Dann in die Bäckerei und dann im Stadtkulturhaus auch zu Toiletten. Mir geht durch den Kopf, dass die Bibel ermutigt, mit einem der bittet, eine Meile mit zu gehen, zwei daraus werden zu lassen. Wir haben Czingi um nichts gebeten. Er begleitet uns selbstverständlich ein Stück und bittet vor dem Abschied alle ausdrücklich, für ihn, seine Frau und seinen Sohn zu beten.
Später am Tag, im Gewirr der Stadtautobahnen, läuft plötzlich ein Mann vor uns her. Er scheint genau den gleichen Weg zu haben und uns zeigen zu wollen, wie wir schwierige Passagen zu bewältigen und gefährliche Ausfahrten zu überqueren haben. Mit ihm wechseln wir nur ganz kurz einige Worte. Mir fällt Raphael aus dem Buch Tobit ein, der Engel, der Reisegefährte.

Es ist für mich die Vorsehung. Immer wieder Vorsehung, die uns zukommt. Tag für Tag. An Tagen wie heute wird sie besonders bewusst.

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6 Kommentare zu Vorsehung

  1. Alexandra sagt:

    Ihr Unglaublichen,

    Ich versuche mal, für Herrn Czingi und seine Familie zu beten. Im Beten bin ich aber nicht so versiert wie Ihr. Und ich ich bewundere Euch, nach wie vor! Ey, Ihr seid zu Fuss nach Istanbul gegangen! Krass! Durch die Beton- und Asphaltwüste! Nicht zuletzt bewundere ich Euch aber für Eure Fähigkeit zu beten (sogar mit den Füssen, und wie!). Auch Herrn Czingi bewundere ich!
    Trinkt doch morgen Abend mal ein frisches Efes (oder sonst ein türkisches Bierchen), die Runde geht an mich. Und versteckt doch bitte diesen Spender-Link nicht so grauenhaft bescheiden auf dieser Webseite, ist ja fürchterlich, ich habe fast drei Monate gebraucht, den Link zu finden 😉 Namenskalender. Sowas. Wer vermutet schon einen Spenderlink hinter einem Namenskalender…

    Bis bald, Eure
    A. aus Z.

    • Hildegard Aepli sagt:

      Liebe alexandra, das dünkt mich so schön und berührt mich, wie du schreibst, dass du für czingis und seine familie zu beten versuchst. Danke! Und das von dir gestiftete efes hat sehr geschmeckt. Herzlich aus istanbul hildegard

  2. Pia Kutschera sagt:

    Liebe Hildegard,

    wenn sich göttliche Vor-sehung und menschliche Vor-Sicht begegnen,
    ist es dann nicht ein echter Pilgertag?

    Übrigens habe ich gelernt, dass „Istanbul“ die sprachliche Weiterentwicklung des griechischen „Eis ten pollein“, in die Stadt, ist.
    Ich wünsche Euch, dass Ihr auch die moderne Mega-Stadt als Vor-
    Sichts-Ort entdecken könnt, wenn Ihr „in die Stadt“ geht! Inklusive Meer…
    Herzliche Grüße
    Pia

    • Liebe Hildegard, Esther, Franz und Christian!
      Diesmal habe ich an euch eine Frage: wann seid ihr glücklich?
      Auch wenn ihr treulich in den Blog schreibt, wann euch etwas glücklich und wann euch etwas Sorgen macht und das erstere mit viel häufiger vorkommt:-)
      Ich war nämlich gestern bei einem Weiterbildungstag für Religionslehrer (bei uns in Ö beginnt die Schule erst nächste Woche). Angelehnt an den Glücksunterricht in einigen Schulen (Projekt), hieß das Thema „Glück macht Schule“.
      Bei euren Berichten der Wanderung durch Istanbul ist mir eine
      vorgegebene Glücks-Definition wieder eingefallen, die mich und andere überzeugt hat: „Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein“ (S.d.Beauvoir) für euch scheint ja jetzt das erste weniger als das zweite zuzutreffen… trotzdem seid ihr zurzeit für mich „unvergleichlich in der Welt“ – und das in allen Bedeutungsnuancen, die in diesem Ausdruck enthalten sind… herzlichen Glückwunsch zur Ankunft in Istanbul – die erste Großetappe habt ihr euch ergangen!!!
      Und ich: auch ich bin glücklich, wenn ich „meinen eigenen Weg gehe und mir dabei Flügel wachsen“, wie eine Formulierung aus dem Zen verspricht.
      Ich wünsche euch viele Flügel, von Schutzengeln und an den Füßen…
      Monika

      • Christian Rutishauser sagt:

        Liebe Monika, Glück besteht wohl vor allem darin, dass Leben selber gestalten zu können. Gelebtes Leben, ob schwierig oder leicht – was immer auch das heisst – ist des Menschen Glück, und Unglück, wo er von andern gelebt wird. Ungelebtes Leben rächt sich meistens im Prozess des Sterbens. dies meine bescheidene Lebenserfahrung. Mit herzlichem Gruss, Christian

    • Hildegard Aepli sagt:

      Liebe pia, wir sind in DER Stadt! Herzliche grüsse hildegard