Ein Herbsttag mit Rilke

Heute hielt der Herbst mit seiner raueren Seite in Anatolien Einzug: Über uns zogen graue Wolken, getrieben von starkem Wind. Sturm blies zuweilen ins Gesicht, wirbelte uns Sand und Laub entgegen, und liess uns nur mit schwerem Schritt vorankommen. Dann aber stiess der Wind uns wieder von hinten, griff uns in den Rücken, so dass der Rucksack leicht wurde und wir schnellen Schrittes vorwärts flogen. Trockenes Herbstwindwetter mit stürmischen Böen, faszinierendem Wolkenspiel und flatternden Bäumen, die ihre Blätter fliegen lassen, begleitete uns in herrlicher Berglandschaft den ganzen Tag. Erst am Abend setzte leichter Regen ein.
Ich mochte diesen Wetterumschwung, denn er rief mir schon in der Früh Rilke in Erinnerung: „Die Blätter fallen, fallen wie von weit…“ Doch nicht nur sein bekanntes Herbstgedicht, das auch beim Friedhofseingang im Park des Lassalle-Hauses steht, musste ich rezitieren, sondern verschiedenste Gedichtfetzen mit Herbstmetaphern stiegen mir beim Gehen auf. Vor allem das Eröffnungsgedicht vom „Buch von der Pilgerschaft“, das ich in den ersten Pilgertagen im Juni als Motto auswendig gelernt hatte, beschreibt das Pilgern mit dem Bild des Herbstes. Es geht um ein Entwerden und Reifen werden, bis die Wirklichkeit jenseits jeder Illusion einen durchdringt. Dieser Text war mir heute lebendig wie noch nie!

Dich wundert nicht des Sturmes Wucht,
– du hast ihn wachsen sehn;
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft schreitende Alleen.
Da weißt du, der, vor dem sie fliehn,
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst.

Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den, der alles tut.
Du glaubtest schon erkannt die Kraft,
als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast.

Der Sommer war so wie dein Haus,
drin weißt du alles stehn –
jetzt mußt du in dein Herz hinaus
wie in die Ebene gehn.
Die große Einsamkeit beginnt,
die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind
die Welt wie welkes Laub.

Durch ihre leeren Zweige sieht
der Himmel, den du hast;
sei Erde jetzt und Abendlied
und Land, darauf er paßt.
Demütig sei jetzt wie ein Ding,
zu Wirklichkeit gereift, –
daß Der, von dem die Kunde ging,
dich fühlt, wenn er dich greift.

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14 Kommentare zu Ein Herbsttag mit Rilke

  1. rosmarie sagt:

    Liebe Pilger,
    Ihr habt für heute Eure Arbeit getan und ich habe meine Sonntagsarbeit beendet: Den Text eines Segens auf einem Sommergartenhintergrund ausgemalt:
    Segen der Erde mit Dir
    Segen des Meeres mit Dir
    Segen des Windes mit Dir
    Segen der Bäume mit Dir
    Segen des Wassers mit Dir
    Segen der Felsen mit Dir
    Segen der Sterne mit Dir
    Dieser Segen begleite Euch auf dem morgigen Tag in der Landschaft, die Euch morgen entgegenkommt. Rosmarie

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Rosmarie
      Vielen Dank für die Segenszeilen! Ja, alle Geschöpfe sollen sich gegenseitig segnen, einander bene-dicere, Gutes sagen.
      Mit liebem Gruss,
      Christian

  2. Maja Peter sagt:

    Lieber Christian,
    wie symbolisch ist doch euer Pilgern mit unserer „Lebenspilgerreise“! An diesem Wochenende kamen auch bei uns der Wind und die Kälte, und dunkle Wolken verdeckten den blauen Himmel der letzten Wochen. Eine Stimmung, die mich in eine „Herbstmelancholie“ versetzt. Da kommt mir Dein Beitrag und das Gedicht von Rilke gerade entgegen! Vielen herzlichen Dank dafür!
    Ich wünsche Euch weiterhin viel Kraft bei Gegenwind und Leichtigkeit bei Rückenwind!
    Herzliche Grüsse an alle vier
    Maja

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Maja
      Herbststimmung hat oft etwas Melancholisches. Darum ist vielleicht der Herbst so schön.
      Mit einem lieben Gruss
      Christian

  3. Bernhard sagt:

    noch ein „Herbsttag“ mit Rilke-Metaphern:

    „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
    Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
    und auf den Fluren lass die Winde los.

    Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
    gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
    dränge sie zur Vollendung hin, und jage
    die letzte Süße in den schweren Wein.
    …“

    Herzlichen Gruß
    Bernhard

    • Christian Rutishauser sagt:

      Lieber Bernhard
      Vielen Dank! Rilke ist einfach gross in seiner seiner Sprache!
      Mit liebem Gruss
      Christian

  4. Sr. M.Christa Ineichen sagt:

    Liebes Pilgerquartett,
    eure Herbst – Rilke- Poesie ist grossartig!! Vielen Dank!
    Morgen gedenken wir des seligen Papa Buono Papst Joh. XXIII., der ja in Bulgarien und später in Instambul als Nuntius wirkte. Diese Länder und Städte sind euch ja seit dem „Pilger-Durchzug“ bestens bekannt, nicht nur vom Hören- sagen.., nicht wahr?

    Unser Gebet begleitet euch weiterhin über Stock und Stein!

    Liebe Grüsse aus Eschenbach
    Sr.M.Christa

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Sr. M. Christa
      In Sofia und in Istanbul sind wie den Statuen und Gedenktafeln an Papst Johannes XXIII. begegnet. Ja, es tut gut, die Erinnerung an ihn und sein Wirken zu pflegen.
      Mit einem herzlichen Gruss von allen
      Christian

  5. Erika Smid sagt:

    Liebes Pilgerquartett
    auch ich schicke euch mein Lieblings-Herbst-Gedicht es ist von Friedrich Hebbel,
    Dies ist ein Herbstag, wie ich keinen sah!
    Die Luft ist still, als atmete man kaum,
    und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
    die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

    O stört sie nicht, die feier der Natur!
    Dies ist die Lese, die sie selber hält;
    denn heute löst sich von den Zweigen nur,
    was von dem milden Strahl der Sonne fällt.

    Bei uns hat es bis auf 600 meter geschneit. Alle Berggipfel rund um den Urnersee sind tief verschneit!
    Euch allen ein gesegnetes “ Weiterpilgern “
    Herzlich
    erika.

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Erika
      Herzlichen Dank für das Gedicht von Hebbel. Ich kannte es nicht. Der Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit und so sind mir diese Texte besonders nahe.
      Mit einem lieben Gruss in die Zentralschweiz mit den verschneiten Gipfeln, Christian

  6. Eva Wimmer sagt:

    Liebe vier Pilger,
    „GEDICHTE, sind Zugvögel.
    Sie kommen,
    rasten,
    verändern Zwischenräume,
    sind Horizont.“
    Dies schrieb Elisabeth Rudolf (Luzern) und fasste in Worte, was ich beim Lesen empfinde. DANKE, dass Ihr immer wieder „Zugvögel“ auf den Weg schickt.
    Einen erholsamen Ruhetag wünscht Euch Eva

    • Liebe PilgerInnen,
      Rilke und Hebbel ist es nicht, nur ein Akrostichon, ein Spiel und zum Schwimmen ist es jetzt natürlich auch nicht mehr…
      Hauch spüren
      Eiskalt zuweilen
      Rauch riechen, vom Wind hergeweht
      Beeren vernaschen, die verlocken
      Sonne trinken, ein letztes Mal schwimmen geh’n
      Tiere freilassen, wilde, bunte Drachen zusammen.
      Gesegnetes Weiterpilgern!
      Monika

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Eva
      Ein tolles Bild für Gedichte, die Zugvögel. Gedichte sind auch die Flaschenpost des Herzens!
      Mit liebem Gruss
      Christian