Das Land, die Stadt und die Schrift

Diese Woche habe ich mit Esther zusammen über unser Pilgern an der Universität Luzern erzählt, eingeladen von der Studierendenseelsorge „Horizonte“. Viele alte Bekannte und Freunde sind gekommen. Dabei ist mir bewusst geworden, wie sich vor gut zehn Jahren, als ich hier am Institut für jüdisch-christliche Forschung meine Doktorarbeit schrieb, schon zahlreiche Ideen für das Pilgerprojekt in Gesprächen herauskristallisiert hatten. Beim gemeinsamen Reden über Studienreisen und Aufenthalte in Israel/Palästina in jener Zeit, nahm ich auch wahr, wie sich mein Bezug zum Heiligen Land und zu Jerusalem gewandelt hat. Nachdenklich gestimmt hat mich vor allem die Tatsache, dass zahlreiche Leute, die in den 80er und 90er Jahren gerne ins Heilige Land gegangen sind und biblische Reisen führten, heute davon Abstand nehmen. Sie fahren nicht mehr hin. Warum wohl? Ist es die politische Situation im Land, die sich immer mehr verschärft, die resignieren liess? Oder ist die Begeisterung für Bibelarbeit vor Ort verdunstet und verschwunden? Sind es die ferneren und noch exotischeren Regionen der Welt, die in der fortschreitenden Globalisierung mehr faszinieren? Ich nehme die verschiedenen Tendenzen wahr und fragte mich erneut, was mich in dieser Konstanz seit drei Jahrzehnten an Jerusalem sowie Israel/Palästina fasziniert und fesselt. Vielleicht liegt der Grund nicht im Land selbst, nicht in der Heiligen Stadt an sich, sondern in der biblischen Geschichte, die davon erzählt, und in den Verheissungen, die ich damit verbinde.

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10 Kommentare zu Das Land, die Stadt und die Schrift

  1. Pia sagt:

    Lieber Christian,

    Dein Statement hat für mich die nachdenkliche Seite Deines/Eures Projektes angerührt. War es ein Exodus, ein Heilsweg, ein solidarischer, ein friedens-
    bringender Weg? Ein Weg mit Folgen?

    Hier gab es in Arte die letzten zwei Freitagabende einen Spielfilmvierteiler über das „Gelobte Land“, in dem eine junge englische Frau von heute versucht, eine Schuld ihres Großvaters einzulösen, der als britischer Besatzer 1948 die heutige Situation Israels voller gut gemeinten Engagements mit eingeleitet hatte. Dabei stehen sich ständig Augenblicke der damaligen Problematik mit ihren heutigen Erfahrungen in Israel gegenüber. Natürlich ist ein Spielfilm suggestiv, aber hinterher habe ich mich gefragt, ob dies ein gelobtes oder verfluchtes Land ist.

    Jede Seite ist aus sich verständlich, aber letztlich stellt dieses Land neben der historischen Pietät für mich als nicht Gereiste eine Riesenfrage: Ist das noch Religion oder die konzentrierte Form menschlichen Wahnsinns und aller damit verbundenen sündigen Eigenschaften wie Habgier, Rechthaberei, Mord-und Rachsucht etc.? Ich möchte wie vielleicht viele schreien: Lasst doch los von euren Ansprüchen, führt Dialoge statt Waffen, übergebt „eurem“ Gott betend die Lösung, ein anderer Weg des Friedens scheint undenkbar. – Und für uns: Das „Vorbild“ Israels als Stachel im Fleisch menschlicher Selbstgenugtuung?

    Die zweite Frage war für mich, warum Gott sich über Jahrhunderte solch einen unruhigen Landstrich mit einem pausenlos leidenden, lange zertreuten Volk erwählt hat. Und ob das heute noch gilt. Etwas geholfen hat mir das Pauluswort, dass er nicht das Gloriose erwählt, sondern das Kleine, Unvollkommene, in seinem Leiden Liebenswerte. Das „Lämmchen“.
    Aber opferte sich Jesus wirklich für die entschiedenen Täter – heute?

    Auch ich kenne Orte der Zuwendung und des Engagements, Christian, letztlich sind es unergründliche Geheimnisse, warum mich ein Ort zu solch innerer Verbundenheit führt. Wahrscheinlich ist es in Worten nur ansatzweise zu vermitteln.

    Zuletzt möchte ich die Frage stellen, inwiefern „Jerusalem“ für uns als christlich Gläubige hier daheim oder qua Lassalle-Haus fruchtbar werden kann. Neben Lesen und Blog-Schreiben.
    Ein Ausblick in die Zukunft?

    Viele Grüße
    Pia

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Pia
      Seit über zwanzig Jahren setze ich mich intensiv mit diesem Landstrich auseinander. Historische Fakten, politische Analysen, kulturelle Erklärungen, soziale Feldforschungen, religiöse Interpretationen etc. liegen zu Hauf vor. Ich habe keine Lösung und vor allem Fragen, wie Du. Die Sinnkonstruktion kommt für mich hier klar an Grenzen. Es bleibt allein, das Gute zu tun und sich der Tragik auszusetzen.
      Mit einem lieben Gruss
      Christian

      • Pia sagt:

        Lieber Christian,

        nochmals melde ich mich, weil es für mich hier um
        einen der Kerne des Projekts geht, aber auch um
        die Frage, ob ich mich eines Tages als christliche Pilgerin Israel aussetze.

        Übrigens habe ich Deine Antwort an Marie-Therese
        gelesen. Ich finde, Israel als jüdisch-religiöse Einheit und die dort engagierten Gruppen suchen sich die exponierte Rolle selbst, weil alle versuchen, eine religiöse, verabsolutierte
        Heilsgewissheit geographisch beschränkt für sich zu leben. Das unterscheidet
        sie von Diktatoren oder Oligarchien, die von oben
        bestimmen; hier leben ganze Völker bzw. Religionsgruppen den Anspruch auf ihr jeweiliges
        Heil unter In-Kauf-Nahme größten Unheils für den
        jeweils von ihnen abqualifizierten „unheiligen Anderen“. Und tragischerweise sind es die monotheistischen Religionen, die sich noch dazu
        auf heilige Schriften berufen. Die ewige Kain-und-Abel-Problematik?

        Dein „Sich der Tragik aussetzen“ habe ich verstanden als spirituelles
        Kreuz mittragen. Aber was heißt dann konkret „Das Gute tun“? Solidaritätsbekundungen
        für ALLE Beteiligten? Mea culpa-Bekenntnisse daheim und Blick auf den Balken im eigenen Auge?
        Dialogfünkchen setzen, wenn ich in diesem Land
        Menschen treffe? Zuhören? Politische Einflussnahme auf Parteien, wenn mal wieder eine Seite das Unmenschliche betreibt? „Nur“ schweigend betend die Wege Jesu geographisch authentisch nachwandern? Theologische Aufklärung? Daheim ein „unaufhörliches“ Gebet?

        Wie lebst DU das nach Deiner Heimkehr jenseits
        von Erzählterminen? Ließe sich Dein Weg ver-
        allgemeinern?

        Danke für Deine Antwort!
        Mit guten Wünschen für die kommende Zeit
        Pia

        • Christian Rutishauser sagt:

          Liebe Pia
          Eine Blog-Antwort gibt es zu diesen Fragen nicht, weder bezüglich der komplexen Überlegungen, die dazu schon Bibliotheken füllen, noch bezüglich meines persönlichen Weges, der nur begrenzt hier mitteilbar ist. Doch ich hoffe, die Fragen und Antworten arbeiten weiter.
          Mit liebem Gruss
          Christian

  2. Marie-Therese sagt:

    Lieber Christian,
    Was andere Menschen abhält, ins „heilige“ Land zu reisen mag bei jedem verschieden sein, vielleicht etwas von allem.
    Was mich selbst abhält ist die politische Situation, die Art, wie mit den Palestinensern umgegangen wird…. Das schreckt mich einfach ab. Solang da kein wirklicher für alle Seiten spürbarer Frieden herrscht, werde ich nicht dorthin reisen, obwohl ich wirklich Lust hätte, all diese heiligen Orte live zu erleben, zu erspüren und zu fühlen.
    Ich finde es aber trotzdem super, dass Ihr zu Fuss dorhin marschiert seid! Ich erkenne es auch an, wenn Ihr und andere Menschen die Sachen anders seht.
    Mit den besten Wünschen grüsst Dich und Deine ehemaligen MitpilgerInnen herzlichst,
    Marie-Therese

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Marie-Theres
      Ich kann Deine Gedanken nachvollziehen. Ähnlich frage ich mich manchmal, ob ich eigentlich in der Schweiz leben darf, in einem Land, das über seinen Wohlstand und seine Geldgier zu so viel Unrecht beiträgt. Ich wundere mich, dass die Frage jedoch wenige Menschen zu stellen scheinen und wenn sie es tun, warum meistens bei den Andern? Warum gerade bei in Israel/Palästina? Warum wurde die Frage z. B. beim Regime des Mubarak in Ägypten nie gestellt? Wo dürften wir leben, wenn es nicht Gnade gäbe? Und wie leben wir, ohne die Verantwortung leichtfertig abzuschieben?
      Mit einem lieben Gruss
      Christian

  3. kleine schwester ursula sagt:

    lb Christian,deine antwort v.29.4. an m.theres lässt mich dir schreiben.deine ?:“warum gerade bei in Israel/Palästina ?….“
    meine antwort ist sehr einfach:“weil es EIN land des heiligen“ gibt. und zig menschen weltweit, die sich christen, juden nennen sich auf diese ein-malige weise mit diesem land und den menschen dort identifizieren, solidarisieren, kritisieren und vieles mehr. und dies aus einer emotionalität und religiöser verbundenheit heraus.
    ich bin dankbar, dass es heute noch menschen gibt wie marie theres die aus ihren angeführten gründen heraus, sich fernhalten dorthin zu gehen.
    und für mich ist’es stets wichtiger geworden die botschaft am grab: ER ist nicht mehr hier, ER IST ALL-Ueberall !
    herzl.gruss
    ursula

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Ursula
      Deine Antwort sehe ich auch als Hauptgrund. Und gerade weil der Auferstandene „all-überall“ ist, frage ich mich manchmal, was mich legitimiert hier in der Schweiz zu leben.
      Mit einem ganz lieben Gruss
      Christian

      • Marie-Therese sagt:

        Lieber Christian,
        Ursula hat genau benannt, was für mich der Hauptgrund ist, was mich abschreckt, das „Heilige Land“ zu besuchen. Es ist für mich unerträglich, eine Faust aufs Auge, wenn ein Land sich als „Heilig“, als „gelobt“ bezeichnet, DAS Land, einen Grossteil der Bevölkerung schickaniert, ausgrenzt, entrechtet, etc… Ja, auch in der Schweiz und auch in anderen Ländern passieren Dinge, die gegen die Menschenwürde verstossen, in gewissen Ländern mehr und in anderen weniger. Auch ich bin nicht ohne Fehl und Tadel.
        Auch ich bin der Ueberzeugung, dass Gott überall ist und dass jeder Mensch von Gott gewollt ist, und damit das Recht hat, dort zu leben, wo er/sie am besten im Einklang mit Gott leben und wirken kann.
        Herzliche Grüsse, Marie-Therese

  4. Rahel Walker sagt:

    Lieber Christian,

    wir geben nicht auf! Der Flug für den Sommer ist gebucht trotz knapper Finanzen, ich freue mich jetzt schon, mit Flurina an der Mauer in Jerusalem, am See Genezareth, der Kirche der Seligpreisungen mit dem paradiesischen Garten, hinauf auf den Mosesberg in Ägypten usw. Dort, wo der Heilige Israels historisch gewandelt ist, mit seinen Füssen den Boden berührt hat, dort wollen auch wir hin, Politik hin oder her.

    Flurina, Rahel und Dominik grüssen Dich lieb.