212. Tag: Wallfahren heisst für mich… (XX)

Wallfahren heisst für mich: Pilgern zu einem „heiligen Ort“

Was ist ein „heiliger Ort“? Von den Juden wird Jerusalem als heiliger Ort betrachtet, denn König David hat die Bundeslade hierher bringen lassen  (vgl. 2 Sam 6,12).

Die Bundeslade ist Zeichen für die Gegenwart Gottes unter seinem Volk. Als Salomo den Tempel baut, wird diese Bundeslade in das Allerheiligste des Tempels übertragen, der damit zu einem geheiligten Ort wird. Bei der Zerstörung des Tempels und der Bundeslade weicht allerdings die Gegenwart Gottes nicht mehr von diesem Ort, so sagt es der Talmud.

Die Erfahrung des Exils lehrt das Volk Israel, dass Gott überallhin mitzieht: Er zog mit ihnen aus Ägypten durch die Wüste ins Verheissene Land, dann weiter ins Exil und wieder nach Hause. Er ist nicht an einen Berg gebunden, er wohnt nicht in einem Haus, er ist nicht „eingesperrt“ in einem Tempel, der auch zu klein ist – er ist immer bei seinem Volk, sei es die Wolke oder die Feuersäule (Ex 14,19-24), sei es unter dem Zelt: Alles sind Zeichen der mitgehenden Gegenwart Gottes.

Der Gedanke, dass Gott mit seinem Volk überallhin mitzieht, ist sehr tröstend. Jesus selbst sagt nach dem Johannesevangelium, dass Gott überall „im Geist und in der Wahrheit angebetet“ werden kann (Joh 4,21). Auch die Wallfahrt zu noch so heiligen Stätten macht den Pilger nicht automatisch heiliger, sondern nur ein tugendhaftes Leben – und das kann jede-r zu Hause üben (so der Kirchenlehrer Hieronymus).

Warum gibt es dann aber geheiligte Orte, die nicht verrückbar sind, sondern fix und unbeweglich?

Für mich lautet die Antwort: Weil dort Jesus Christus gelebt hat, gestorben und auferstanden ist. So wie die Zeit seines Lebens nicht versetzbar ist, so sind auch die Orte, an denen er gelebt hat, nicht verschiebbar, nicht austauschbar: Dass Jesus hier geboren worden ist, hier gelebt hat, gestorben ist, und – wie ich glaube – auferstanden ist: Diese Ereignisse haben hier „statt“-gefunden und nicht woanders, es lässt sich auch nicht anderswohin verschieben oder kopieren.
Beim Lesen des Evangeliums über die Emmaus-Jünger (Lk 24,13-35) kam mir der Gedanke: Zuhause überlege ich mir: Die Jünger sind nach Jerusalem – dorthin – zurückgelaufen, nachdem sie Ihn erkannt hatten. Hier – nur hier – kann ich sagen: Sie sind hierher zurückgelaufen.
Es ist ein von Gott „geheiligter“ Ort, nicht naturhaft, animistisch heilig. Zugleich ist er ganz irdisch – nicht eine geistige, göttliche Wirklichkeit, er ist und bleibt eine irdische Wirklichkeit. Im Himmel wird es keine bestimmten „geheiligten“ Orte mehr geben, denn alles ist geheiligt (Apk 21, 22-23).
Das Allerheiligste des Tempels war unantastbar. Nur der Hohepriester durfte nach entsprechender Reinigung einmal im Jahr dort eintreten und die Opferplatte mit dem Opferblut besprengen. Sonst niemand.
Christlich ist kein Ort unberührbar, kein Platz unantastbar. Alles ist antastbar, denn die ganze Schöpfung ist von Gott gemacht und von ihm gesegnet – ohne Ausnahme.
Auch Jesus lässt sich berühren (vgl. Mk 5,30-34; 1 Joh 1,1): Er berührt blinde Augen (Joh 9,5); er nimmt an der Hand, er segnet Kinder.

So können auch wir zu diesen sinnlich fassbaren Steinen und Stätten pilgern, das Leben Jesu betrachten und Ihn um seinen Segen bitten.

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4 Kommentare zu 212. Tag: Wallfahren heisst für mich… (XX)

  1. Pia sagt:

    Lieber Franz,
    durch deinen Beitrag ist für mich eine Synthese und ein Verständnis erwachsen von der Besonderheit Jerusalems: Inkarnation, „ins Fleisch drängen“, wie Christian schon sagte, du nennst es Sinnenhaftigkeit und
    geschichtliche Einmaligkeit. Vielleicht „greifen“ und „sehen“ können, wie
    es der geschichtliche Jesus getan hat, vielleicht ihm über die Jahrhunderte
    sogar sinnlich näher sein als an anderen Orten. Aber gleichzeitig ist es auch
    tröstlich, dass dieser Segen sich universell ausbreitet, dass wir an Christus
    in der Schöpfung, in der Zeit und in uns glauben und nicht nur an den historischen Mann aus Nazareth in Jerusalem. – Das ist für mich durch deinen Beitrag eine der Erkenntnisse aus diesem Blog. Da entsteht ein Bogen zwischen Euch dort und uns an den Terminals hier, aber auch ein Bogen einer Geschichte, die eines Tages „aufgehen“ wird.
    Einen guten Jahresabschluss und -ausblick wünscht Euch allen
    „un-blogged“ Pia

  2. Beat Näf sagt:

    Wenn heilige Orte „fest“ sind und „fest“ an einen Ort gebunden sind, wo dies und jenes stattgefunden hat oder stattgefunden haben soll – wobei ich beides nicht voneinander unterscheiden kann – und diese Orte dann von Menschen verwaltet werden, ist der Zugang zu ihnen dann wirklich frei? Wie ist es, wenn ich denke, dass solche Orte überall sind, weil die Vorstellung des In-die-Welt-Kommens des Logos doch bedeutet, dass er überall ist, wäre das unangemessen? Ich empfinde es als ein Problem dieser Vorstellung, dass wir in der Tat für jede Vergegenwärtigung auf ein konkretes Tun und Denken angewiesen sind, auf „feste Orte“ also. – Die Gedanken kommen auch daher, dass ich mir vorstelle, dass im Alltag die Einsicht in das, was Du beschreibst, grundlegend ist, und sie jedenfalls nicht gewissermassen einmal für immer gewonnen ist, weil alles zeitlich ist.

  3. Beat Näf sagt:

    Nochmals ein Gedanke dazu – und wie immer als Gedanke – (und wie immer – ohne besondere Ansprüche, ich lese, überlege, manchmal schreibe ich Notizen, manchmal in den Blog, aber ich denke, das ist alles sehr ephemer): Bei den grossen „heiligen“ Orten (nicht jenen, die wir uns auch im Alltag einrichten) haben wir es mit Orten zu tun, die für durch eine lange Tradition und durch eine lange Beschäftigung ausgezeichnet sind. Man kann, wie Du sagst, zu ihnen hingehen, um aber zu verstehen, was sie bedeuten, bedarf es viel. Man weiss es nicht einfach. Man muss viel lernen, so lernen, wie es in sogenannten Disziplinen (Wissenschaften) gemacht wird. Sonst hätten wir keine relativ einheitlichen Religionen mit heiligen Orten, sondern viele persönlichen Kulte mit eigenen heiligen Orten. Doch – wieder zu den obigen Überlegungen – wollte Jesus eine Kirche, wollte er feste Heilige Orte, die notwendigerweise dann ja auch durch religiöse Institutionen verwaltet werden? Gehört zur Vorstellung Gottes nicht gerade die Allgegenwart? – Und damit bin ich auch bei Deiner Überlegung zu den Begegnungen mit den Religionen (XXI) (ein Problem des Blogs – die Gedanken sind verteilt, wiederholen sich, man kann sie auch nicht korrigieren): Es gibt die sogenannten Weltreligionen. Hier hat man immer wieder von Begegnungen gesprochen. Doch heute gibt es ganz neue Formen der Religiosität: So viele Menschen hier sagen von sich, sie würden keiner Konfession angehören. Und doch sind alle (oder viele) dieser Themen, die in der traditionellen Religion wichtig sind, für sie gleichfalls von Bedeutung. Sie würden wohl keine Wallfahrt nach Jerusalem machen, sicher aber eine Reise dorthin. Und wahrscheinlich seid Ihr Ihnen in grosser Zahl begegnet.

  4. Franz Mali sagt:

    Lieber Beat,
    ja, die Feststellung von bestimmten unverrückbaren Orten ist insbesondere für das Christentum eine grosse Problematik: Der Logos ist überall gleich nah oder gleich fern. Zugespitzt wird dieses Thema noch einmal hier in Jerusalem, wenn mehrere Religionen dieselben Orte für ihren Kult einfordern und nur eine davon die Stätten verwaltet oder ein Staat drum herum ist, der bestimmte Gruppen sehr genau filtert und gar nicht erst in die Nähe kommen lässt: Das gilt für die Klagemauer oder den Tempelberg in Jerusalem aber noch mehr für die hl. Stätten in Mekka oder Medina.
    Gruss Franz