Ein Herbsttag mit grosser Überraschung

Der Herbst ist eingekehrt: Nach zwei Tagen mit Gewitter und Regenwolken, die am Uludağ gehangen sind und uns auch Pilgerstunden im Nebel beschert hatten, war heute ein strahlender Sonnentag mit klaren und kräftigen Herbstfarben. Auch die Kühle am Morgen und der angenehme Wind tagsüber lassen die Sommerhitze nicht mehr aufkommen. Atemberaubend war dann der Blick, als wir hoch am Berg ins Porsuktal kamen; gegenüber eine Schlucht und weiter westlich ein langsam abfallender Hang wie ein Trichter, auf dem sich Felder und Bäume, Strassen und Dörfer verteilen. Es galt zum Fluss hinunterzugehen und dann über diesen weitgezogenen Hang aufzusteigen bis nach Harmandemirci, das wir gegen 17.00 Uhr erreichten. Und in diesem 80 Familiendorf begann die Überraschung:

Beim Abendessen

Uns wurde gesagt, es gebe ein Konuk Evi, ein Gästehaus, und wir sollten uns an den Bürgermeister wenden, zu dessen Haus uns zwei Buben führten. Da angekommen, wurden wir vor dem Haus gleich zum Tee eingeladen. Nicht nur eine Bubenmenge hatte sich da angesammelt, die mit unseren Rucksäcken spielten, sondern auch Frauen und Männer aus dem Dorf kamen, um uns zu sehen. Dass wir zu Fuss aus der Schweiz hergekommen sind, hat sich in Windeseile im Dorf verbreitet. Es wurden uns Nüsse und Maiskolben zum Essen gebracht und immer wieder wurde Tee serviert. Mit unseren geringen Türkischkenntnissen versuchen wir, uns zu verständigen und entziffern, was geschehen soll. Dies gelang jedoch nur schrittweise und mit viel Erraten.
Der Gastgeber stellt sich als Bruder des Bürgermeisters heraus. Auch er selbst tauchte auf, musste aber wieder zur Arbeit. Ich wurde zwischendurch in den Stall mitgenommen, wo es die Kühe zu melken galt. Ob all der Besuche dunkelte es ein, man sagte uns, wir könnten hier schlafen, doch wo und wie es geschehen soll, konnten wir nicht verstehen. Schliesslich wurden wir in des Bürgermeisters Haus eingeladen und sassen da am Boden, rund um die Tischplatte, die mit zahlreichen Schüsseln gedeckt wurde. Mustafa Yanar mit Frau, sein Bruder Abdullah mit Frau assen mit uns aus den gleichen Schüsseln, die alte Mutter nebenan. Brot, Löffel und Gabel reichten, um aus den Schüsseln zu fischen. Es wurde für uns im Ofen auch eingeheizt und wir hielten in Türkisch eine Kommunikation aufrecht, ein wahres Kunststück.
Gegen 21.00 Uhr erhoben wir uns, schulterten den Rucksack wieder und wurden durch das dunkle Dorf geführt. Da klopften wir an der Tür der Tochter des Bürgermeisters, die am Nachmittag mit ihrem Mann schon vorbeigeschaut hatte. Wir erkannten sie wieder und wurden nun im oberen Stock ihrers Hauses einquartiert. Da wurden vor unseren Augen improvisierte Betten hergerichtet und alles wurde organisiert, was wir für die Nacht brauchen. Unsere Luftmatratzen und Schlafsäcke hatten im Rucksack zu bleiben. Da wir den ganzen Abend wegen der mangelnden Sprachkenntnis nie im voraus wussten, was nun wieder folgen wird, war auch dieser letzte Akt eine grosse Überraschung. Wir hätten nie gedacht nach der Einladung beim Essen noch eine so gediegene Unterkunft eingerichtet zu erhalten.

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5 Kommentare zu Ein Herbsttag mit grosser Überraschung

  1. Monique sagt:

    Lieber Christian, Hildegard, Esther, Franz
    Beim Lesen der angenehmen „Überraschungen“ und des „paradiesi-schen“ Anatolien kam mir spontan Psalm 133 in den Sinn: „Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder und Schwestern miteinander in Eintracht wohnen…“
    Ob diese Schwestern und Brüder nun Moslems, Christen, Juden, Buddhisten, Hindus, Atheisten oder… auch wenn die Sprache ein Hindernis ist und nur die universelle Sprache des Wohlwollens und des Teilens verstanden wird… Dies ist für mich paradiesisch!
    Mit einem frischen, sonnigen Sonntagmorgengruss
    Monique

    • Liebe Esther, Hildegard, Franz und Christian,
      schon seid ihr wieder unterwegs. Die Weltpolitik, die Forderung eines Palästinenserstaates bringt euch wieder intensiv in Erinnerung. Mir fehlen einige Tage eurer Pilgerschaft, einige lese ich nach, „Tribut“ an Schul- und Saisonbeginn.
      Danke schön für eure Kartengrüße aus Istanbul, sie sind schon vor einiger Zeit mit großer Freude angekommen! (Die Auflösung der Sonnenauf- und -untergänge habe ich verpasst, ihr ward offensichtlich barmherzig mit Fehlern…) Spannend, die Geschichten aus der Türkei zu lesen, Syrien rückt Tag für Tag näher, …
      Behüte euch Gott selbst
      Monika

    • Christian Rutishauser sagt:

      Liebe Monique
      Die Grösse und die Schwäche der Gastfreundschaft besteht wohl darin, dass es eben nur Stunden sind, in denen wir einander begegnen. Die Stunden aber gilt es zu hüten.
      Mit einem lieben Gruss
      Christian

  2. Rita Schawalder sagt:

    Liebe Pilgerer. Es freut mich ganz besonders, dass ihr am Sonntag des Erntedanks im Vorhof der Moschee von der reichlichen Ernte kosten konntet. Für die Karte aus Istanbul danke ich euch ganz herzlich. Ich fühle mich nach wie vor sehr verbunden mit euch und freue mich täglich eure Neuigkeiten zu lesen. Ich wünsche euch viele Glücksmomente, aber auch die Kraft Schweres zu ertragen. Viele Fans aber ganz besonders der liebe Gott sind mit euch.
    Gruss Rita

  3. Daniela Eichhorn sagt:

    Liebe Pilgersleute,
    wie schön und aufbauend zu hören, dass Ihr von den ‚einfachen anatolischen Leuten‘ so freundlich aufgenommen wurdet. Da tun wir Christen uns untereinander an manchen Stellen doch viel schwerer (man denke nur an die Äußerungen des Papstes in Erfurt, die ja alles andere als verwunderlich waren, und Eure Erfahrungen im orthodoxen Kloster). Dass das Lassallehaus sich darin deutlich unterscheidet, weiß ich sehr wohl zu schätzen. Aber auch Euch vier Pilgern gilt an dieser Stelle mein Dank, ladet Ihr uns doch mit Eurem Blog immer wieder neu dazu ein, Teil zu haben an Eurem Erleben und gebt uns so manchen Anstoss, den zu meditieren, sich auch in unserem Alltag zu Hause lohnt. Passt gut auf Euch auf und findet möglichst immer auch noch vor Sonnenuntergang eine Bleibe, in der Ihr Euch von den Beschwernissen des alltäglichen Unterwegsseins ausruhen und die müden Füße hochlegen könnt. Möge Gott Euch auch auf Eurem weiteren Weg beschützen und behüten, das wünscht Euch von Herzen Daniela