195. Tag (aus Petra): Wallfahren heisst für mich… (XI)

Heute gibt es keine Strecke.

Wallfahren heisst für mich: Heimat zurücklassen.

Dem vielverkauften Buch über seine Wallfahrt gab Hape Kerkeling den Titel: „Ich bin dann mal weg“. Weg-Sein ist ein Stichwort, Fortgehen die Voraussetzung dazu. Wallfahren heisst zunächst fortgehen, die Familie für diese Zeit zurücklassen, die meisten Bekannten nicht mehr sehen, kaum einen Kontakt mit ihnen haben.
In dieser Zeit verlasse ich die Arbeit. Die Freuden und Sorgen des Arbeitsplatzes und der Bekannten nehme ich ins Gebet mit, aber ich kann dort nicht mehr intervenieren. Ich habe Abschied genommen. Ich ziehe in die Fremde und werde selber ein Fremder – für alle Menschen auf dem Weg. Ich bin (fast) überall Ausländer. Wie werde ich als Ausländer, als Fremder wahrgenommen, behandelt und – hoffentlich – aufgenommen – oder abgewiesen? Aber auch mir sind die Leute unterwegs unbekannt. Wie gehe ich auf sie zu?

Unterwegs auf der Landstrasse

Ich bin dankbar, dass wir als kleine Gruppe unterwegs sind. Zugleich bin ich auf lange Strecken allein. Ich setze mich der Heimatlosigkeit aus. Meist weiss ich nicht, wo ich am Abend schlafen werde. Es braucht Kraft, dieses Ausgesetzt-Sein auszuhalten. Jeden Tag bin ich auf die Hilfe von mir völlig fremden Menschen angewiesen. Es kostet mich Überwindung, ihre Hilfe anzunehmen, weil vieles nicht mit Geld zu begleichen ist. Noch recht häufig legen Menschen keinen Wert auf grosse Bezahlung (ausser in Touristenhochburgen), sondern sie wollen einfach gastfreundlich sein.

Zugleich kommen mir immer wieder Gedanken an Zuhause, die mich beschäftigen. Wie es da wohl geht? Besonders meiner Mutter, die alt und schon gebrechlich ist? Wie läuft es in der Umgebung meiner Arbeitsstelle, wo andere dankenswerterweise viele meiner Verpflichtungen übernommen haben? Nur sporadisch bekomme ich darauf eine Antwort. Heimat zurücklassen – Wallfahren tut auch weh. Es ist ein echter Abschied, mindestens auf Zeit.

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4 Kommentare zu 195. Tag (aus Petra): Wallfahren heisst für mich… (XI)

  1. Alice Rudin sagt:

    Lieber Franz, nach deinem emotionalen Bericht konnte ich mich kaum mehr lösen von meinem Mitfühlen. Ihr habt Unsagbares geleistet und das „nach Hause kommen“ wird so schön wie noch nie, alle Lieben in die Arme zu nehmen!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Lieber Gruss Alice

  2. Gabrielle sagt:

    Lieber Franz !
    Deine Gedanken berühren mich tief…..kennst du das Lied von Schubert „der Wanderer an den Mond“ ? So klingen deine Worte und Empfindungen in deinen Berichten…..wie Schubert…….wenn du willst, sende ich dir den Text….

    Alles Liebe Gabrielle

  3. Beat Näf sagt:

    Heimat ist nicht nur der Ort, wo wir sind, es ist ein Ort, der entsteht, der geschaffen wird. Der Austausch über das, was Wallfahrt ist, schafft auch in einem gewissen Sinne eine (neue) Heimat. Er fügt sich den Berichten unzähliger Pilger (seltener Pilgerinnen) an. In den älteren Berichten, die ich lese, ist es für mich viel schwieriger zu rekonstruieren, wie über Gefühle gesprochen wurde. Sie sind da, finden Ausdruck, und doch kommt es mir oft vor, darüber werde nicht gesprochen. Vielleicht weniger deshalb, weil man dies nicht wollte oder tun durfte, vielleicht hängt es mit dem Medium zusammen und mit der Zeit, die es braucht, einen Eintrag dauerhaft aufzuzeichnen. Erst, wenn es möglich ist, dass dies schnell geschieht, wird es möglich, dem Wechsel der Gefühle mit den Aufzeichnungen nachzukommen. Die Gefühle bekommen Ausdruck, einen anderen Ausdruck als früher, eine neue Heimat. Und auch hier sind Räume. Manches bekommt seinen Raum, anderes nicht. In den älteren Berichten – ich denke etwa an Felix Fabri im 15. Jahrhundert – war immer wieder Raum für Mythen und Legenden. Das Haus, das er baute, sein Bericht seiner Jerusalempilgerfahrt, seine Heimat, nahm auf, was man lesen konnte, was man erzählte und fand, vieles ist standardisiert, und doch lässt es Raum für das Einschreiben persönlichen Erlebens, auch der Gefühle, aber nicht so, wie wir es heute tun können.

  4. Bobbe sagt:

    Good to see real expertise on display. Your contribuiotn is most welcome.